Der Aufbruch von Ingeborg Arvola

Der Aufbruch von Ingeborg Arvola 

Titel des Buches
Seiten: 416
Verlag: btb
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3442762685
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Ein historischer Roman wie ein arktischer Strom: kalt, unerbittlich, aber von großer Schönheit.
Bewertung: 8/10 ⭐

Inhalt:

Nordfinnland, 1859: Brita Caisa wird nach einer Liebesbeziehung mit einem verheirateten Mann von der Kirche verstoßen und muss ihren Heimatort verlassen. Sie setzt ihre beiden Söhne auf einen Rentierschlitten, nimmt ihre Skier und bricht in einem Tross auf zum norwegischen Eismeer. Dort, so heißt es, soll das Meer vor Fischen brodeln und es ausreichend Arbeit und Essen geben. Als sie unterwegs den Hofbesitzer Mikko kennen lernt und eine vorläufige Anstellung findet, spürt sie, dass sie sich mit ihm eine Zukunft vorstellen könnte. Doch die gegenseitige Zuneigung wird auf eine harte Probe gestellt. Poetisch und voller Intensität schildert Ingeborg Arvola eine junge Frau, die mit den Normen der Gesellschaft hadert und mutig ihren eigenen Weg geht. In einer Welt, geprägt von der nordisch-kargen Landschaft, der Bedeutung des Fischfangs, Gottesgläubigkeit und einer tiefen, von Mystik durchzogenen Verbindung zur Natur.

Review:

Selten beginnt ein historischer Roman so leise und endet so eindringlich wie Ingeborg Arvolas Der Aufbruch. Kein dramatischer Paukenschlag, keine inszenierte Moral. Stattdessen ein letzter Satz, der so schlicht wie offen ist, als würde die Geschichte nicht enden, sondern sich in den Leser fortschreiben. Genau darin liegt die Größe dieses Romans. Arvola erzählt Geschichte nicht im Sinne eines rückblickenden Berichts, sondern als gelebte Erfahrung. Sie schreibt nicht, um zu illustrieren, sondern um spürbar zu machen. Der Aufbruch, der erste Band ihrer Trilogie Ruijan rannalla – Lieder vom Eismeer, beweist eindrucksvoll, dass literarische Qualität nicht laut oder pathetisch sein muss. Es genügt, wenn sie präzise ist, klug beobachtet und sich jeder Eitelkeit enthält.

Im Mittelpunkt steht Brita Caisa, eine Frau mit zwei unehelichen Kindern, die 1859 aus dem finnischen Inland Richtung Nordnorwegen flieht. Die Gesellschaft hat sie verstoßen, der Pfarrer sie öffentlich gedemütigt. Was bei anderen Autorinnen leicht zur larmoyanten Selbstbemitleidung führen würde, behandelt Arvola mit großer Nüchternheit. Sie macht Brita nicht zur Heldin, sondern zur Figur voller innerer Spannungen, die sich zwischen Stolz und Verzweiflung, Hoffnung und Wut ihren Weg durch eine erbarmungslose Welt bahnt. Ihre Fehltritte und emotionalen Irrwege sind nicht moralisch kommentiert, sondern Teil eines Lebens, das sich keinen einfachen Kategorien unterordnet.

Dass diese Figur auf Arvolas eigene Vorfahrin zurückgeht, ist mehr als ein biografischer Kunstgriff. Es verleiht der Erzählung eine stille Autorität. Man spürt in jeder Szene die Genauigkeit der Recherche, aber auch den Respekt vor dem Stoff. Arvola weiß viel, doch sie belehrt nie. Stattdessen flicht sie ethnografisches, sprachliches und historisches Detailwissen mit großer Souveränität in eine dichte, atmosphärisch aufgeladene Handlung ein. Fischfang, Volksglaube, jahreszeitliche Wanderarbeit, die harte Topografie des Nordens – all das erscheint nicht bloß als Kulisse, sondern als integraler Bestandteil des Erzählten.

Formal überzeugt der Roman durch seine Klarheit. Die Kapitel sind knapp, oft nur wenige Absätze lang, aber jede Szene hat Gewicht. Arvolas Stil ist schnörkellos, aber nie karg. In ihren Sätzen schwingen Kraft und Zärtlichkeit gleichermaßen mit. Wer genau liest, hört den Schnee knirschen, riecht die salzige Luft und spürt die Enge einer Gesellschaft, die über Moral urteilt, aber ihre eigenen Verfehlungen verschweigt. Gelegentlich mag die Vielzahl an Namen und Sprachen – Finnisch, Kvenisch, Norwegisch – fordern, doch gerade das spiegelt die kulturelle Durchmischung dieser vergessenen Grenzregion wider.

Auch eine Liebesgeschichte kommt vor. Sie folgt allerdings keiner romantischen Dramaturgie, sondern verläuft brüchig, widersprüchlich, gezeichnet von gesellschaftlichem Druck und individueller Sehnsucht. Die Leidenschaft ist glaubhaft, gerade weil sie Konsequenzen hat. Arvola verklärt nichts. Liebe ist in diesem Roman keine Erlösung, sondern ein weiterer Prüfstein. Das ist selten in einem Genre, das sich allzu oft mit einfachen Lösungen zufrieden gibt.

Der Aufbruch ist vieles zugleich: ein feministischer Roman, ohne politisches Manifest zu sein. Ein kulturelles Porträt, ohne belehrend zu wirken. Eine literarische Reise in eine raue, oft feindliche Natur, die nicht nur geographischer Raum, sondern seelische Landschaft ist. Am Ende bleibt ein Buch, das seine Leser fordert, aber nie überfordert. Es öffnet den Blick auf eine unterrepräsentierte Kultur, eine vergessene Region, ein Leben im Schatten der offiziellen Geschichtsschreibung. Und es tut das mit einer leisen, aber durchdringenden literarischen Stimme.

Wer sich darauf einlässt, wird ein Stück arktisches Licht mitnehmen. Kein grelles Leuchten, eher ein flackerndes Schimmern, das noch lange nach der letzten Seite im Gedächtnis bleibt.

Der Aufbruch von Ingeborg Arvola Der Aufbruch von Ingeborg Arvola Reviewed by Darkybald on Mittwoch, August 13, 2025 Rating: 5

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