Am anderen Ufer des Meeres von António Lobo Antunes

Am anderen Ufer des Meeres von António Lobo Antunes 



Seiten: 448
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3630877354
Amazon: Amazon.de








"Ein Roman, der nicht gefallen will – und genau deshalb gelesen werden sollte"

Rating: 7/10


Inhalt:

In seinem neuen Roman begibt sich Weltliterat António Lobo Antunes an die Anfänge des portugiesischen Kolonialkriegs gegen Angola und zeichnet in kunstvoll überbordender Sprache ein gnadenloses Porträt von drei vereinsamten Menschen. Im Januar 1961 protestieren die Arbeiter der Baumwollplantagen in der Baixa do Cassanje für bessere Arbeitsbedingungen und faire Bezahlung, doch schon kurze Zeit später wird der Aufstand vom portugiesischen Militär äußerst brutal niedergeschlagen. Es sind diese Ereignisse, auf die die drei Protagonisten in »Am anderen Ufer des Meeres« zurückschauen – ein hochrangiger Soldat, ein Bezirksverwalter und die Tochter eines Plantagenbesitzers. Lobo Antunes blickt tief hinein in die Gefühlswelt seiner Charaktere, legt Schichten von Gewalt und Rassismus frei und lässt in inneren Monologen die Vergangenheit spuken und die Erinnerungen schwirren.

Review:

António Lobo Antunes, Portugals ewiger Nobelpreisverdächtiger, legt mit Am anderen Ufer des Meeres wieder einmal ein Werk vor, das den literarischen Intellekt herausfordert wie ein Kreuzworträtsel aus dem Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung – allerdings in arabischer Sprache und rückwärts gedruckt. Wer hier eine Handlung im klassischen Sinne sucht, kann gleich zurück ins Storytelling-Seminar der Volkshochschule gehen.

Denn Handlung? Gibt es nicht. Stattdessen: drei Stimmen – ein kolonialer Beamter, ein ausrangierter Militär und die Tochter eines Plantagenbesitzers – die in inneren Monologen ihre seelischen Trümmerhalden durchwühlen. Und das in einem Stil, der sich weigert, Kommas als Pausen und Absätze als Gnade zu verstehen. Kapitel bestehen hier mitunter aus nur einem Satz – so lang wie ein portugiesischer Sommer und so gnadenlos wie ein Zahnarztbesuch ohne Betäubung.

Aber bevor man dieses Buch mit demonstrativem Schwung in die Ecke pfeffert – was manchen in Versuchung führen könnte –, sollte man sich einmal klar machen: Was Antunes hier veranstaltet, ist große Kunst. Ja, die Texte fordern. Ja, sie muten dem Leser einiges zu – aber sie trauen ihm auch etwas zu. Und das ist in einer Zeit, in der Belletristik oft mit literarisch aufbereiteten Tagebuchnotizen verwechselt wird, beinahe ein revolutionärer Akt.

Die Stärke dieses Romans liegt in der Konsequenz: Antunes gibt seinen Figuren keine Stimme, er gibt ihnen ein ganzes Innenleben, roh, ungefiltert, schmerzhaft. Was wir lesen, sind keine Rückblicke, sondern das seelische Kontinuum von Menschen, die vom Kolonialkrieg in Angola nicht nur körperlich, sondern vor allem geistig versehrt wurden. Die Sprache ist hier kein Mittel der Mitteilung, sondern ein Mittel der Zerreißprobe – für Leser wie Figuren.

Und doch: Wer sich durch die semantischen Dschungel kämpft, wird belohnt. Nicht mit emotionaler Erlösung – das gibt es hier nicht – aber mit einem Blick auf die monströse Ambivalenz des Menschlichen. Antunes beschreibt Kolonialisten, die zutiefst rassistisch sind, ja: moralisch widerwärtig. Und dann gelingt ihm das Kunststück, auch diesen Figuren ihre Menschlichkeit zu lassen – nicht als Entschuldigung, sondern als Zumutung. Der Leser ist gezwungen, Mitgefühl zu empfinden, wo er es nicht empfinden will. Das ist, literarisch gesehen, Hochseilakrobatik ohne Netz.

Der Roman ist durchdrungen von einer düsteren Poesie: Bilder von zerfetzten Dörfern, stummen Frauen, innerlich verwüsteten Männern. Immer wieder tauchen bestimmte Motive auf – wie Obsessionen, wie Schatten, die sich nicht abschütteln lassen. Es ist, als würde man durch ein Kaleidoskop blicken, das ausschließlich aus Trümmern besteht. Und auch das titelgebende „andere Ufer des Meeres“ ist weniger geografisch als existenziell zu verstehen – alle Figuren sind irgendwo gestrandet, auf einem Kontinent zwischen Erinnerung und Verdrängung.

Natürlich – und das muss gesagt werden – ist dieses Buch nichts für Leser mit E-Book-Flatrate und der Erwartungshaltung, nach drei Seiten wisse man, worum es geht. Wer Am anderen Ufer des Meeres liest, braucht Geduld, Konzentration und eine gewisse Toleranz gegenüber literarischer Anarchie. Aber genau darin liegt auch seine Größe: Dieses Buch zwingt zur Auseinandersetzung, zur aktiven Lektüre, zur Infragestellung des eigenen ästhetischen Komforts.

Fazit:

Am anderen Ufer des Meeres ist kein Buch, das gefallen will – und gerade deshalb gefällt es mir außerordentlich. Ein barocker Bewusstseinsstrom über Schuld, Erinnerung und das Versagen der Sprache, der seine Leser nicht unterhält, sondern ernst nimmt. Ein Werk, das nachhallt – wie ein Schrei in einem verlassenen portugiesischen Kolonialhaus.

Oder, um es ganz unironisch zu sagen: Wenn Sie Literatur suchen, die nicht die Welt erklärt, sondern ihre Widersprüche sichtbar macht, dann greifen Sie zu diesem Buch. Und zwar jetzt. Am besten mit einem Bleistift in der Hand – zum Unterstreichen. Und mit viel Zeit. Sie werden sie brauchen.

Am anderen Ufer des Meeres von António Lobo Antunes Am anderen Ufer des Meeres von António Lobo Antunes Reviewed by Darkybald on Samstag, April 12, 2025 Rating: 5

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