Vierhundert Seelen von Ibram X. Kendi, Keisha N. Blain
Vierhundert Seelen von Ibram X. Kendi, Keisha N. Blain
„Vierhundert Seelen“ – ein Kanon wider das Vergessen
Inhalt:
Die Geschichte beginnt 1619, ein Jahr vor der Ankunft der Mayflower, als die White Lion etwa 20 »negroes« an der Küste Virginias ausspuckt und damit die afrikanische Präsenz in den späteren Vereinigten Staaten einleitet. Sie führt uns quer durch den enormen Einfluss der Schwarzen auf die Geschicke der jungen Nation. Ibram X. Kendi und Keisha N. Blain versammeln 80 Autorinnen und Autoren, die sich der Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln nähern: durch die Augen großer historischer Ikonen oder durch die unerzählten Geschichten einfacher Menschen, durch Orte, Gesetze und Gegenstände. Während sich Themen wie Widerstand und Kampf, Hoffnung und Neuerfindung wie ein roter Faden durch das Buch ziehen, entfaltet diese Sammlung eine verblüffende Bandbreite an Erfahrungen und Ideen, die es in der Community der Schwarzen in Amerika immer gegeben hat. So erzählt dieses Buch u.a. von Leid und Trauma, von Unterdrückung und Befreiung, vom Kampf um Selbstbestimmung und rechtliche Gleichstellung, von gewaltigen Pionier- und Heldentaten, von der Entwicklung von Swing, Rock'n'Roll, Soul, Funk und HipHop und der Entstehung der Black-Lives-Matter-Bewegung. Vierhundert Jahre Afrikanisch-Amerikanische Geschichte: Eine Reise voll von unmenschlicher Gewalt, visionären Kämpfen und erstaunlichen Errungenschaften.
Review:
Man stelle sich vor: 80 Autorinnen und Autoren, die sich zusammentun, um 400 Jahre afroamerikanischer Geschichte zu erzählen. Das klingt zunächst nach einem intellektuellen Hürdenlauf – und Four Hundred Souls (im Deutschen: Vierhundert Seelen), herausgegeben von Ibram X. Kendi und Keisha N. Blain, ist genau das. Aber es ist auch: ein bewegendes, aufwühlendes und zutiefst klug komponiertes Lesebuch, das ein kollektives Gedächtnis gegen das historische Verstummen verteidigt.
Statt eines linearen Geschichtsbuchs, wie man es von einem Eric Hobsbawm oder Jill Lepore kennt, erwartet uns hier ein vielstimmiges Kaleidoskop. Alle fünf Jahre amerikanischer Geschichte – von 1619, dem Jahr, in dem die ersten versklavten Afrikaner in Virginia ankamen, bis 2019, dem Jahr nach der Gründung von Black Lives Matter – wird von einem anderen Autor, einer anderen Stimme erzählt. Gedichte, Essays, Miniaturen, autobiographische Reflexionen. Manchmal glasklar wie ein Chronikeintrag, manchmal poetisch versponnen, manchmal polemisch zugespitzt.
Das klingt nach literarischem Chaos. Aber, und das überrascht: Dieses Buch funktioniert. Und es funktioniert, weil es gar nicht versucht, durchgängige Kohärenz zu liefern, sondern sich selbst als polyphones Projekt versteht. Eine Geschichte, die so zerrissen ist wie die afroamerikanische, lässt sich eben nicht in einem einzigen Ton erzählen. Hier begegnen wir einer Vielfalt, die politisch gewollt ist und ästhetisch überzeugt.
Natürlich, nicht jeder Text zündet. Einige Essays wirken wie aus dem Seminar für "kreatives Schreiben mit politischer Haltung", andere glänzen durch historische Tiefe und stilistische Eleganz. Aber das ist nicht schlimm – denn Vierhundert Seelen lebt nicht vom Geniekult, sondern vom Kollektiv. Wer nur homogene Qualität will, soll bitte Hegel lesen.
Besonders hervorzuheben ist, wie viele dieser Beiträge abseitige Kapitel der afroamerikanischen Geschichte ausleuchten. Da geht es um Frauen wie Elizabeth Key, die im 17. Jahrhundert ihre Freiheit einklagte, um schwarze queere Sexualität im 19. Jahrhundert, um den ersten schwarzen Baptistenprediger oder die erste schwarze Zeitung. Diese mikrohistorischen Schlaglichter sind es, die dem Leser zeigen: Schwarze Geschichte ist nicht bloß ein Anhängsel der amerikanischen Geschichte – sie ist deren Rückgrat.
Die häufig erwähnte Audioversion sei hier mit Vorsicht genossen. Ja, sie ist mit über 80 Sprecherinnen und Sprechern ambitioniert produziert – aber wer wirklich verstehen, vertiefen, markieren will, sollte zur gedruckten Ausgabe greifen. Geschichte, die in Häppchen von zehn Minuten serviert wird, bleibt selten lange im Kopf. Das gilt für Netflix, und das gilt auch für dieses Buch.
Was bleibt? Vierhundert Seelen ist ein ambitioniertes, stellenweise überambitioniertes, aber insgesamt herausragendes Geschichtsbuch neuer Machart. Wer ein homogenes Narrativ sucht, wird hier scheitern. Wer bereit ist, sich auf ein Projekt einzulassen, das in seiner Vielstimmigkeit ein deutliches politisches Zeichen setzt – nämlich: dass Geschichte nicht allein durch Großereignisse oder Präsidenten erzählt wird, sondern durch die Stimmen vieler –, der wird hier belohnt.
Urteil:
Ein Buch, das die Pflichtlektüre für amerikanische Schulen sein sollte – und für deutsche Leser ein eindrucksvoller Blick auf eine Geschichte, die in unseren Lehrplänen kaum vorkommt. Nein, es ist kein perfektes Buch. Aber es ist ein notwendiges. Und das ist in Zeiten wie diesen womöglich mehr wert.













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