Weiße Nächte. Mit der Erzählung "Die Sanfte" von Fjodor M. Dostojewski
Weiße Nächte. Mit der Erzählung "Die Sanfte" von Fjodor M. Dostojewski
Träumen, Scheitern, Schweigen – Zwei Erzählungen über das Wesen der Liebe
Inhalt:
Dostojewskis meisterhafte Erzählungen in einem Band: »Weiße Nächte« – die Erinnerungen eines Träumenden an eine unerfüllte Liebe. »Die Sanfte« – die Bilanz eines von Gram und Schuld zerissenen Witwers mit der Erkenntnis, Opfer wie Täter zugleich zu sein. Sehnsucht und Verlangen, Verletzlichkeit und Rachsucht, späte Reue und die Liebe – Dostojewski verwandelt den Blick in die Natur der menschlichen Seele zu Weltliteratur.
Review:
Wer diesen Band mit den beiden frühen Erzählungen Fjodor M. Dostojewskis zur Hand nimmt, Weiße Nächte und Die Sanfte, wird zunächst vielleicht von ihrer äußerlichen Gemeinsamkeit in die Irre geführt: beide sind kurz, beide kreisen um die Liebe, beide werden in der Ich-Form erzählt – und doch könnten sie kaum gegensätzlicher wirken. Gemeinsam gelesen entfalten sie eine dramatische Achse zwischen zarter Hoffnung und seelischer Verwüstung, zwischen träumender Sehnsucht und sprachloser Schuld. Sie zeigen Dostojewski in zwei Stimmungen, die einander tief widersprechen und doch beide dem gleichen Abgrund zuarbeiten: dem menschlichen Bedürfnis, verstanden und geliebt zu werden – und dem allzu menschlichen Scheitern daran.
Weiße Nächte ist dabei die hellere, versöhnlichere Erzählung. Ein junger Mann, namenlos, empfindsam, lebt in der Leerstelle zwischen Traum und Realität. Er wandert durch St. Petersburgs weiße Nächte, wo das Licht des Sommers jede Dunkelheit verweigert, aber auch keine Klarheit erlaubt. Er begegnet Nastenka, einer jungen Frau mit eigenen Enttäuschungen, und für vier Nächte entsteht zwischen ihnen ein Schwebezustand aus Nähe, gegenseitiger Offenbarung und unausgesprochener Hoffnung. Die Liebe bleibt unerwidert, aber nicht vergeblich. In einer Geste, die an Dostojewskis tiefstes humanistisches Credo rührt, verzichtet der Erzähler nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke. Er erkennt: Das Glück war real, wenn auch flüchtig – und das Leben ist nicht weniger lebenswert, nur weil es nicht den erträumten Ausgang nimmt.
Die Sanfte hingegen ist ein kaltes Protokoll emotionaler Inkompetenz. Auch hier ein namenloser Ich-Erzähler – diesmal ein älterer Pfandleiher, nüchtern, stolz, von Beruf und Lebenshaltung her zur Distanz erzogen. Als seine sehr viel jüngere Frau Selbstmord begeht, beginnt ein innerer Monolog, der sich liest wie eine Autopsie am lebenden Subjekt. Der Erzähler schwankt zwischen Selbstmitleid und Einsicht, zwischen Rechtfertigung und kläglichem Verständnis, doch stets bleibt das Bild seiner Frau verschwommen. Nicht, weil sie undeutlich gezeichnet wäre – sondern weil der Mann nie gelernt hat, sie zu sehen. Die eigentliche Tragik dieser Erzählung liegt in der Sprachlosigkeit: Zwei Menschen leben nebeneinander, nicht miteinander. Die Frau bleibt stumm – im Leben wie in der Erzählung –, und gerade das macht ihre Figur so eindringlich. Man spürt sie durch ihre Abwesenheit. Was als stilles Zusammenleben begann, endet in einem toten Raum, in dem nur noch das Gewissen spricht – zu spät, zu hilflos.
Zusammen gelesen zeigen diese beiden Erzählungen nicht nur Dostojewskis stilistische Bandbreite, sondern auch die moralische Fallhöhe seines literarischen Universums. Weiße Nächte ist die Geschichte eines jungen Menschen, der durch das Gefühl zum Leben erwacht. Die Sanfte ist die Geschichte eines Mannes, der durch die Abwesenheit des Gefühls das Leben zerstört. Beide Erzählungen handeln von Liebe – die eine als Möglichkeit, die andere als Tragödie. In ihrer Kombination ergibt sich ein bitteres Panorama der menschlichen Seele, das Dostojewski mit chirurgischer Präzision freilegt. Wer meint, man könne über das Wesen der Liebe mit einem Gedichtband und einem Kinofilm alles gesagt haben, dem sei dieser schmale, doppelbödige Band empfohlen. Er wirkt länger nach als man es von hundertsiebzig Seiten erwarten würde – weil man hier nicht bloß liest, sondern sich selbst begegnet. Und das ist bekanntlich der unbequemste aller Literaturerlebnisse.












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