Die Lungenschwimmprobe von Tore Renberg
Die Lungenschwimmprobe von Tore Renberg
"Ein Historienroman voller Ambitionen – und Ablenkungen"
Inhalt:
Leipzig/Sachsen, im Jahre 1681: die fünfzehnjährige Anna Voigt steht vor Gericht, sie soll ihr neugeborenes Baby getötet haben. Die Obrigkeit will sie verurteilt sehen, es droht ihr der Tod - wie vielen anderen Mädchen und Frauen in dieser Zeit, die des gleichen Verbrechens bezichtigt werden. Aber dieser Fall ist anders: Sie hat nicht nur einen mächtigen Vater, der sich für sie einsetzt. Sondern es findet sich auch ein Arzt, der etwas spektakulär Neues wagt und ein wissenschaftliches Verfahren entwickelt, das in die Medizingeschichte als "Lungenschwimmprobe" eingehen wird. Durch dieses soll nachgewiesen werden, dass es tatsächlich eine Totgeburt war, wie Anna hartnäckig versichert, und kein Mord. Kann sie gerettet werden? In Renbergs brillantem historischen Roman folgen wir dieser Geschichte durch die Augen verschiedener, unverwechselbarer, historisch belegter Charaktere – da ist der Arzt, der sich der Wissenschaft verpflichtet fühlt und das Neugeborene untersucht; da ist der kontroverse und progressive Anwalt, der sich entscheidet, diesen nahezu aussichtslosen Fall zu übernehmen; und da ist Annas Vater, ein wohlhabender, einflußreicher Mann, der sich sofort auf die Seite seiner jungen Tochter schlägt und alles daran setzt, damit ihr Gerechtigkeit widerfährt, dessen Hass auf ihre Widersacher so groß ist, dass er sich schon bald auf einen unerbittlichen Rachefeldzug begibt. Demgegenüber stehen die Köchin aus seinem Haushalt, die gegen Anna aussagt - und vor allem der erbarmungslose Ankläger, der das Mädchen durch grausame Folter zum Geständnis bringen will. Inmitten all dessen befindet sich die blutjunge Anna, verzweifelt und verängstigt, aber standhaft in ihrem Beharren darauf, unschuldig zu sein. Die Lungenschwimmprobe ist ein packender historischer Roman über das Zusammenprallen zweier Welten: die Ausläufer des Mittelalters treffen auf die ersten Ansätze der frühen Aufklärung, dies alles vor dem dramatischen Hintergrund einer barocken Lebenswelt - basierend auf wahren Begebenheiten, die der Autor akribisch recherchiert hat, die Lungenschwimmprobe selbst gilt als Beginn der modernen Rechtsmedizin.
Review:
Tore Renbergs "Die Lungenschwimmprobe" ist einer dieser Romane, die sich auf der Grenze zwischen Genie und Überforderung bewegen. Ein Historienepos, das sich mit nichts Geringerem beschäftigt als der Frage nach Gerechtigkeit, Wahrheit und der systematischen Unterdrückung von Frauen – und dabei mit einer solchen Detailfülle und stilistischen Experimentierfreude aufwartet, dass man sich manchmal fragt, ob weniger nicht doch mehr gewesen wäre.
Im Mittelpunkt steht Anna Voigt, eine 15-Jährige, die im Leipzig des 17. Jahrhunderts beschuldigt wird, ihr neugeborenes Kind ermordet zu haben. Was für ein Aufhänger! Renberg schafft es, mit beeindruckender Präzision eine düstere Epoche zum Leben zu erwecken: den Nachklang des Dreißigjährigen Krieges, die Verwüstungen von Pest und Hunger und die erbarmungslose Härte eines patriarchalischen Rechtssystems. Dass Frauen in dieser Zeit wenig mehr waren als rechtlose Körper in den Händen einer männerdominierten Gesellschaft, wird hier mit brutaler Klarheit vor Augen geführt. Und doch: So kraftvoll diese zentrale Geschichte auch ist, sie wird immer wieder von einem Übermaß an erzählerischen und stilistischen Umwegen unterbrochen.
Renberg jongliert mit verschiedenen Perspektiven, Genres und Erzählformen: Briefe, Lieder, historische Berichte – sogar der Autor selbst tritt als Erzähler in Erscheinung. Das kann brillant wirken, wenn es dem Verständnis der Geschichte dient, oder aber prätentiös, wenn es vor allem nach „Seht her, wie viel ich recherchiert habe!“ schreit. Und genau hier liegt das Problem: Die Lungenschwimmprobe, die titelgebende Untersuchung, gerät ebenso wie Anna selbst immer wieder in den Hintergrund, während Renberg sich in Exkursen über juristische Details, die Lebensgeschichten von Nebenfiguren und, ja, auch in Betrachtungen über vegane Ernährung während der Pandemie verliert. Solche Einwürfe mögen für den Autor tiefsinnig sein, sie wirken auf den Leser jedoch oft wie absichtslose Stolpersteine im Lesefluss.
Doch man muss Renberg zugutehalten: Wenn er sich auf die eigentliche Geschichte konzentriert, ist "Die Lungenschwimmprobe" ein fesselndes Werk. Besonders stark ist die Darstellung von Christian Thomasius, einem Juristen, der mit den moralischen und intellektuellen Herausforderungen seiner Zeit ringt. Thomasius, ein Mann zwischen Aufklärung und Rückständigkeit, ist eine der vielschichtigsten Figuren des Romans und steht exemplarisch für den Übergang von mittelalterlichen Denkmustern zur Moderne.
Anna hingegen bleibt mehr Symbol als Charakter: ein Opfer, das für die Sünden der Gesellschaft büßt. Ihre zarte Menschlichkeit blitzt in Tagträumen und kleinen Momenten auf, doch Renberg lässt sie oft zu passiv, zu entrückt wirken. Das mag historisch korrekt sein, doch es raubt der Geschichte die emotionale Wucht, die sie verdient hätte.
Ein Fazit, das so ambivalent ist wie das Buch selbst:
Ist "Die Lungenschwimmprobe" ein schlechter Roman? Bei weitem nicht. Renberg beweist, dass er ein Meister des historischen Romans ist, wenn er die Intrigen, den Machthunger und die tief verwurzelte Bigotterie des 17. Jahrhunderts seziert. Doch er macht es seinen Lesern schwer, indem er sich zu oft in seiner eigenen Brillanz verliert. Vielleicht hätte er einen gnadenlosen Lektor gebraucht, der ihm den Mut zur Kürzung abverlangt.
Letztlich ist "Die Lungenschwimmprobe" wie eine barocke Kathedrale: grandios, kunstvoll, überladen. Für jene, die sich durch die verzierenden Schnörkel graben wollen, bietet das Buch zweifellos lohnende Einsichten. Aber wer eine klare, fokussierte Erzählung sucht, wird in diesem Labyrinth aus Symbolik und Stilmitteln nicht so leicht seinen Weg finden.
Mein Urteil: Ein bewundernswert ambitioniertes, aber ungleichmäßiges Werk. 3,5 von 5 Sternen.
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