Was wir wissen können von Ian McEwan

Was wir wissen können von Ian McEwan

Titel des Buches
Seiten: 480
Verlag: Diogenes
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3257073577
Kaufen: Amazon.de
Die Vergangenheit als Liebhaber, die Wahrheit als Phantom
Bewertung: 8/10 ⭐

Inhalt:

Im Jahr 2119: Die Welt ist überschwemmt, Europa eine Insellandschaft, Freiheit und Reichtum unserer Gegenwart – ein ferner Traum. Der Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe sucht ein verschollenes Gedicht von Weltrang. Der Dichter Francis Blundy hat es 2014 seiner Frau Vivien gewidmet und nur ein einziges Mal vorgetragen. In all den Spuren, die das berühmte Paar hinterlassen hat, stößt Thomas auf eine geheime Liebe, aber auch auf ein Verbrechen. Ian McEwan entwirft meisterhaft eine zukünftige Welt, in der nicht alles verloren ist.

Review:

Ian McEwan ist ein Autor, der die großen Fragen unserer Existenz mit chirurgischer Präzision zerlegt. In Was wir wissen können richtet er seinen Blick auf die brüchige Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf das unstillbare Verlangen des Menschen, aus Fragmenten Sinn zu schaffen. Wie immer bei McEwan geht es weniger um das, was geschieht, als um das, was wir daraus zu wissen glauben.

Wir befinden uns im 22. Jahrhundert, in einer Welt, die nach ökologischer und kultureller Katastrophe zur Ruhe gekommen ist, aber geistig leer erscheint. Thomas Metcalfe, Gelehrter einer sterbenden Geisteswissenschaft, widmet sich mit fast religiösem Eifer dem verschollenen Werk eines Dichters aus dem 21. Jahrhundert. Er lebt in einem Zeitalter, das nichts mehr glaubt und doch vom Bedürfnis nach Bedeutung verzehrt wird. Seine Forschung nach einem verlorenen Gedicht wird zum Spiegel einer allgemeinen menschlichen Sehnsucht: der Wunsch, das Unbegreifliche zu ordnen, den Nebel der Vergangenheit in eine erzählerische Form zu zwingen.

McEwan schildert diesen akademischen Wahn mit kalter Eleganz und einer feinen Ironie, die an Nabokov erinnert. Sein Held ist kein romantischer Sucher, sondern ein Getriebener, dessen Liebe zur Geschichte zur Selbstvergessenheit wird. Die Zukunft, die McEwan entwirft, bleibt bewusst unscharf, eine Skizze aus Resten: ein England, das zur Inselgruppe zerfallen ist, eine Welt, in der Afrika das intellektuelle Zentrum bildet und Europa zu einem melancholischen Archiv geworden ist. Doch das eigentliche Drama spielt sich nicht im Außen ab, sondern in den windstillen Räumen der Erinnerung.

Dann vollzieht sich ein Bruch, wie ihn nur McEwan beherrscht. Plötzlich übernimmt eine andere Stimme die Erzählung. Vivien Blundy, die Frau des Dichters, dessen Werk Metcalfe obsessiv rekonstruiert, tritt aus dem Schatten der Fußnoten hervor und erzählt ihre eigene Geschichte. Mit einer Wucht, die den gelehrten Ton des ersten Teils förmlich zerreißt, gewinnt das Buch eine ungeahnte Körperlichkeit. Vivien spricht mit der Klarheit einer Frau, die begriffen hat, dass jedes Erinnern auch ein Verfälschen ist. Ihr Bericht stellt alles infrage, was wir zuvor zu wissen glaubten, und verwandelt die literarische Konstruktion in ein moralisches Echo.

McEwan gelingt hier ein Kunststück, das man fast altmodisch nennen könnte: Er zeigt, wie aus einer ästhetischen Form eine ethische Erkenntnis wird. Denn wer über die Vergangenheit spricht, spricht immer auch über Macht, über Deutungshoheit, über das Recht, gehört zu werden. Vivien verschiebt die Perspektive, sie entreißt sich dem Zugriff der männlichen Erinnerung und verwandelt das Objekt der Forschung in ein Subjekt des Erzählens.

Natürlich ist nicht alles makellos. Die Zukunftsschilderung bleibt blass, fast beliebig. Manchmal wirkt McEwans intellektuelle Architektur zu streng, zu sehr darauf bedacht, seine Themen zu kontrollieren. Doch sobald er loslässt, sobald er die Figuren atmen lässt, öffnet sich ein Raum, in dem Literatur das tut, was sie am besten kann: sie erinnert uns daran, dass Wissen nichts anderes ist als die Form, die wir dem Zweifel geben.

Am Ende bleibt ein Roman, der in seiner Strenge ebenso herausfordernd ist wie in seiner emotionalen Sprengkraft. Was wir wissen können ist ein Buch über die Sehnsucht nach Gewissheit und die Würde des Nichtwissens. McEwan erzählt von Menschen, die im Angesicht der Geschichte nach Wahrheit greifen und nur sich selbst finden. Ein stilles, kluges, zutiefst beunruhigendes Werk, das lange nachhallt, wie das Echo eines Gedichts, das vielleicht nie existiert hat.

Was wir wissen können von Ian McEwan Was wir wissen können von Ian McEwan Reviewed by Darkybald on Freitag, Oktober 17, 2025 Rating: 5

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