Lázár von Nelio Biedermann

Lázár von Nelio Biedermann

Titel des Buches
Seiten: 336
Verlag: Rowohlt Berlin
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3737102260
Kaufen: Amazon.de
Ein Talent, das heller brennt als sein Roman
Bewertung: 7/10 ⭐

Inhalt:

Alles beginnt, sogar das Ende, als Lajos von Lázár, das blonde Kind mit den wasserblauen Augen, zur Welt kommt. Seinem Vater, dem Baron, wird der Sohn nie geheuer sein, als ob er dessen Geheimnis ahnte. Mit Lajos’ Geburt im Waldschloss bricht auch das 20. Jahrhundert an, das das alte Leben der Barone Lázár im südlichen Ungarn für immer verändern wird. Der Untergang des Habsburgerreichs berührt erst nur ihre Traditionen, aber alle spüren das Beben der Zeit, die schöne Mária ebenso wie der geisterhafte Onkel Imre. Als Lajos in den zwanziger Jahren sein Erbe antritt, scheint der alte Glanz noch einmal aufzublühen. Doch die Kinder Eva und Pista – der das Dunkle so liebt – müssen erleben, wie totalitäre Zeiten ihre wuchtigen Schatten werfen – und lernen, gegen sie zu bestehen.

Ein Roman wie eine Welt, die überwältigende Saga einer Familie, getrieben von der Liebe und der Sehnsucht nach ihr, in den Strudeln des 20. Jahrhunderts. Fesselnd und berührend, zugleich voller Leichtigkeit, voller Träume und Geheimnisse, in denen sich die ganze Tragik und Schönheit der Existenz spiegelt. Und – ob angesichts historischer Katastrophen oder schöner Sommertage – die ewige Frage, wie man leben soll.

Review:

Es gibt Romane, die mit so viel Vorschusslorbeeren auf den Tisch krachen, dass man unwillkürlich den Kopf einzieht. Nelio Biedermanns Lázár gehört zweifellos dazu. Kaum erschienen, bereits in zwanzig Sprachen verkauft, umjubelt als literarisches Wunder eines 22-Jährigen. Und wie so oft, wenn das Etikett „Wunderkind“ zu früh auf die Verpackung geklebt wird, wächst der Verdacht, dass hier weniger ein Buch gefeiert wird als die schillernde Möglichkeit seiner Entstehungsgeschichte. Doch jenseits dieses Rummels steht ein Roman, der sich ambitioniert in eine Epoche stürzt, an der selbst erfahrene Schriftsteller regelmäßig scheitern, und der dabei gleichermaßen fasziniert wie irritiert.

Biedermann wählt die große Geste: den Untergang einer aristokratischen Familie vor der Kulisse eines Jahrhunderts, das aus Blut, Ideologien und Entzauberung besteht. Man spürt auf jeder Seite, wie sehr er die Literaturgeschichte inhaliert hat. Die Ahnengalerie der Anspielungen reicht von Thomas Mann bis Marcel Proust, von Joseph Roth bis zur dunklen Romantik. All das ist nicht bloß Ornament, sondern das bewusste Selbstverständnis eines Autors, der sich im Spiegel der Tradition betrachtet und diesem Spiegel zugleich hinterherspringt, als könne er darin verschwinden. Dass er die Erzählung mit filmischer Schärfe inszeniert, ist kein Zufall; Bilder werden hier gesetzt wie Kader, das Pathos schießt schnell hoch, und oft gelingt es ihm, das Grauen des 20. Jahrhunderts in körperlich spürbare Szenen zu pressen.

Doch je deutlicher der Wille zur Größe hervortritt, desto stärker macht sich der Riss im Fundament bemerkbar. Lázár ist in seiner Direktheit ein zutiefst heutiges Buch; es denkt, spricht und begehrt aus einer Gegenwart heraus, die mit dem historischen Setting nur höflich bekannt ist. Die Figuren bewegen sich durch die Jahrzehnte, als würden sie einen Zeitreiseanbieter gebucht haben, der ihnen moderne Sensibilitäten und Haltungen als unverzichtbares Handgepäck erlaubt. Dadurch entsteht bisweilen die merkwürdige Optik eines Historiendramas, dessen Darsteller aus einer anderen Produktionsfirma stammen. Nicht der historische Raum formt die Menschen, sondern eine Gegenwart, die sich in Kostümen austobt.

Am polarisierendsten ist die Art, wie der Roman Sexualität und Gewalt inszeniert. Manche loben die Unverblümtheit als Ehrlichkeit, als Weigerung, menschliche Körperlichkeit in sepiabraunen Historienstaub zu legen. Andere empfinden die Häufung von sexuellen Grenzüberschreitungen als stilistisch unscharf, als verzweifelte Geste eines Autors, der Intensität mit Überschreitung verwechselt. Tatsächlich wirken diese Stellen häufig überzeichnet, mal unfreiwillig komisch, mal schlicht unreflektiert, und sie drohen die viel interessantere Frage zu übertönen, wie Menschen in Zeiten politischer Erschütterungen ihre Identität behaupten können, wenn die Geschichte selbst zum Feind wird.

Und dennoch: Man ertappt sich immer wieder dabei, wie man weiterliest, manchmal widerständig, häufiger neugierig. Wo dem Text historische Präzision fehlt, besitzt er erzählerische Energie. Wo der Ton ungestüm wird, schimmert ein echtes Talent durch. Biedermann weiß, wie man Rhythmus erzeugt, wie man Figuren mit wenigen Details charakterisiert, wie man Tempo variiert. Seine Sprache ist jung, fiebrig, nicht selten schön in ihrer Ungeduld.

Lázár ist kein großer Roman, aber ein bemerkenswerter. Einer, der zu viel will, weil sein Autor noch nicht gelernt hat, wie viel ein Text überhaupt tragen kann. Einer, der strauchelt, weil er mutig ist. Einer, der an manchen Stellen fast scheitert, aber selten langweilt. Wer Literatur ausschließlich als Perfektionssport begreift, wird an diesem Buch verzweifeln. Wer jedoch Lust hat, das Auflodern eines Talents zu beobachten, das noch nicht weiß, wie mächtig es bereits ist, findet hier ein Werk voller glitzernder, unfertiger Möglichkeiten.

Man wird von Nelio Biedermann noch hören. Vielleicht ist Lázár weniger das Versprechen seines Könnens als der Beweis seiner Entschlossenheit – und beides ist, literarisch betrachtet, ein guter Anfang.

Lázár von Nelio Biedermann Lázár von Nelio Biedermann Reviewed by Darkybald on Montag, Dezember 01, 2025 Rating: 5

Keine Kommentare